Diesen Artikel habe ich für den Jahresbericht 2023/24 des Hospizdienstes Baden-Baden geschrieben:

Ich sitze im Trauergottesdienst im November 2023 in der Spitalkirche, schaue auf das Lichtermeer
der flackernden Kerzen, die tanzenden Flammen, Seelenlichter.
Die Klänge der Harfe nehmen mich mit in den zeitlosen Raum. Die Worte der RednerInnen
erinnern mich sehr an meine Trauerzeit, nachdem ich meinen Mann Peter im Sommer 2021 ins
Sterben begleitet habe.
Darum möchte ich die Geschichte teilen.

Die Trauer ist eine graue Katze in meinem Herzen.
Auf einmal erkannte ich sie als solche.
Wenn sie kommt, richtet sie sich in meinem Herzen ein wie in einem Körbchen und ruht dort erst
einmal.
Sie erwacht manchmal langsam, manchmal aber auch schnell.
Wenn sie langsam erwacht, beginnt sie, sich auszudehnen, ich spüre mein Herz ächzen.
Dann streckt sie sich, berührt meine Kehle und streckt ihre Vorderpfoten noch weiter aus bis hinauf zu meinen Augen, die sich dann mit Tränen füllen und überlaufen.
Ihr ganzer Körper breitet sich schmerzhaft in meinem Brustkorb aus und fließt in meine Arme und
Hände, ein grauer Strom, ein Fluss von Schmerz, wie Gletscherwasser mit Geröll darin
und alles in mir wird schwer.
Manchmal kommen dann glucksende Laute aus meiner Kehle, das Plätschern dieses Flusses.
Ich lasse es zu.
Sie nimmt mich ganz, ist nun kein kleines Kätzchen mehr, eher eine Raubkatze, die aktiviert ist und fordert, was ihr zusteht und das ist Aufmerksamkeit.

Die graue Katze ist nicht aufzuhalten.
Ich lasse mich also von ihr nehmen. Es ist der einzige Weg.
Wenn sie sich ausgedrückt hat, gesehen und gefühlt wurde, zieht sie sich wieder auf ihren Platz in
meinem Herzen zurück, wird von der Raubkatze zur kleinen, erst noch zerzausten Katze, um dann
wieder erschöpft einzuschlummern.
Manchmal jedoch wacht sie nicht langsam, sondern urplötzlich auf, z. B. wenn sie etwas
wahrnimmt, was sie triggert.
Dann springt sie ohne Vorwarnung von ihrem Platz auf, ihre Nackenhaare aufgestellt. Dann hüte
sich, wer kann. Sie kann sehr sprunghaft sein und gereizt.

In meiner Trauerzeit habe ich diese Katze entdeckt.
Doch in Wirklichkeit ist sie schon oft gekommen und gegangen, denn Trauer erfahren wir nicht nur, wenn ein geliebter Mensch stirbt, sondern durch alle möglichen Verluste.
Und seit ich sie bewusst wahrnehme und mich mit ihr angefreundet habe, ist das Zusammensein
mit ihr viel leichter geworden.
Sie ist eine Energie, die sich durch mich hindurchbewegt und manchmal steckenbleibt. Dann kann
ich ihr helfen, wieder in Bewegung zu kommen durch das Spüren im Körper, durch Bewegen,
Atmen und Tönen und so lassen sich auch die „Geröllstücke“ in diesem grauen Fluss bewegen und
von Zeit zu Zeit ausspülen.

Trauer ist die graue Katze in meinem Herzen und manchmal wie ein Gletscherfluss.
Sie lehrt uns Vergänglichkeit und ist selbst vergänglich.
Durch die graue Katze hat sie ein Gesicht bekommen, hat ein eigenes Wesen.
Ich habe sie anerkannt und bin vertraut mit ihr. Sie ist eine wertvolle Begleiterin.
Es lohnt sich also, die Trauer im Körper bewusst wahrzunehmen und mit ihr zu tanzen, damit sie
sich verwandeln und weiterfließen kann; vielmehr zu fühlen, als ausschließlich über sie zu
sprechen.

Mit einem herzlichen Schnurren
Nora